Lesezeichen am Stück Nummer 10
Verrat
S.335

Der Milan funkelte Uras warnend aus dem tiefen Schwarz seiner Augen an. Drohend öffnete er immer wieder seinen spitzen, nach unten gekrümmten Schnabel.

„Was soll denn immer dieses Getue?“ Das Gesicht des Erben des lang verlorenen Throns war zorngerötet. „Ich weiß nicht wie oft du mir schon eine Nachricht deines Herrn überbracht hast. Und jedes Mal dasselbe. Ich bin nicht gewillt, mich von einem Federvieh vorführen zu lassen.“ Der Raubvogel schien von Uras Standpunkt völlig unbeeindruckt zu sein. „Sei dir Eines gewiss: Irgendwann bin ich der König. Dann herrsche ich über dieses Land, den Menschen und jede noch so stinkende Tierkreatur. Und wenn dieser Tag gekommen ist, ist dein Schicksal besiegelt. Ich werde dich persönlich bei lebendigem Leibe rupfen. Ganz langsam. Feder für Feder!“ Uras sah sich verstohlen um. Er besann sich, seine Wut zu bändigen um nicht zu laut zu werden. Seine Leibgarde hatte nicht weit von ihm Posten bezogen. Sie ließen ihn eh nur ungern und wenn dann auch nur auf seinen ausdrücklichen Befehl hin, kurzzeitig unbewacht. Wenn sie ihn nun also hören würden, wäre sicher der erste schneller bei ihm, als es für sein Vorhaben gut wäre.

Der Milan drehte leicht den Kopf und spannte seine beeindruckenden Flügel von sich. Mit einem höhnischen: „Als ob du verschwinden würdest, ohne deinen Auftrag auszuführen. Niemals“, reagierte Uras auf diese Andeutung. Erst als er die scharfen Luftzüge spürt, verursacht von den mächtigen Schwingen um die Drohung in die Tat umzusetzen, lenkte der Thronfolger ein.

„Also gut, also gut“, beschwichtigte er ihn, im höchsten Maße genervt. Er brauchte noch einen Moment, dann versuchte er ein freundliches, unterwürfiges Gesicht aufzusetzen, das so wenig zu ihm passen wollte, wie ein verschmitztes Grinsen auf einem Ratten Gesicht.

Der Milan hielt inne. „Ich bin …“ Uras räusperte sich, als müsste er seine Kehle erst etwas freispülen um die geforderten Worte irgendwie hindurch zu quetschen.

„Ich bin dir Respekt schuldig und dein Herr ist mein Gebieter.“ Uras senkte gespielt ehrfurchtsvoll den Kopf. Das erneut aufkommende flattern ließ ihn wieder Aufsehen. Der Milan stieß sich ab und kämpfte sich hoch ins helle Blau, das von weißen Wolken geziert war. Er öffnete seine Krallen und die dort gerade noch gehaltene Papyrusrolle landete direkt vor Uras Füssen.

Kurz darauf schritt er auf seine Leibgarde zu und brummte schlecht gelaunt: „Abmarsch! Wir müssen zum Felsenwald! Jetzt!“