Lesezeichen am Stück Nummer 3 Teil 2
Abschied und Ankunft
S. 24

Der nasse Tau funkelte wie ein Edelsteinteppich in den morgendlichen Sonnenstrahlen. Von hier, der hellen Wiese aus, nur noch einige Schritte von ihm entfernt, sah der Kampen, der einer der ältesten Wälder von Umbrarus war, dunkel und bedrohlich aus. Wie Zeugen vergangener Tage standen die dicken Eichen und hohen Buchen einfach nur da, als täten sie es schon seit Anbeginn aller Wälder. Tamis gute Stimmung konnte das aber kaum trügen. Sie war genau an der von Dantra beschriebenen Stelle und spähte unter das dichte Blätterdach. Aber mehr als ein Rabe, der auf einem dicken Ast saß und krächzend die Stille unter seinem Geschrei vergrub, konnte sie nicht aus machen.

Ihr schweifender Blick blieb an dem schwarz Gefiederten hängen. Auch wenn die Augen eines Raben meist nur ihre Umgebung nach Essbaren oder Gefahren absuchten, schien dieser wie ein Beobachter mit aufgetragenem Suchgebiet. Jenes beschränkte sich gerade mal auf ihren bis hier her beschrittenen Weg, bis runter zur Stadt, deren dunkle Dachschindeln im, immer noch wachsenden Licht, wirkten wie flüssiger Teer.

„Tami?“ Die Stimme, die ihren Namen nannte, klang alt aber dennoch kraftvoll und es war eindeutig eine Frauenstimme. Ihr Ursprung lag im Schatten des Waldes. Aber so sehr sie sich auch bemühte, zu erkennen war nichts. „Bist du Tami?“, wurde sie gefragt, als würde der Wald mit ihr reden. Mehr als ein unsicheres Nicken konnte sie nicht antworten. Der Rabe, der sein Krächzen für die Fragen unterbrochen hatte, stieß nun wieder gellende Laute aus. Dann spreizte er seine Schwingen und flog galant eine Ochsengespannlänge in den Wald, wo er hinter einer Eiche mit faltiger Rinde verschwand.

„Gut“, sagte die Stimme. Und als wäre sie direkt dem Baum entsprungen, trat eine alte Frau mit denselben tiefen Falten hervor. Der schwarze Rabe, leicht wankend um das Gelichgewicht zu halten, saß auf ihrer Schulter. „Dann komm mit mir, Kind“, sagte sie und streckte ihr den hageren Arm entgegen, dessen Hand nicht einen alten, knochigen Stock hielt, als wollte sie sich auf sie stützen. „Es gibt jemanden, der glaubt, dass eine unschuldige Hexe bei einer Schuldigen am Sichersten wäre. Und ich befürchte, da hat er recht.“

Tami zögerte nicht. Dantra sagte: „Geh, wer auch immer dort auf dich wartet.“ Und wo sollte sie auch schon hin? Der Weg zurück in die Stadt wäre der Weg auf den Scheiterhaufen.


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