Lesezeichen am Stück Nummer 6
Wegekreuz
halbes Jahr vor Buchbeginn

Da stand er nun. Groß und breit wie ein ausgewachsener Braunbär. Aber jämmerlich geknickt, strauchelnd und ohne Hoffnung je wieder stolzen Hauptes sich selbst lobend auf die Brust schlagen zu können.

„Jeder Greis und jedes Kind hätte diese Aufgabe besser bewältigen können als ich“, geißelte er sich leise brummend. „Wo drin besteht meine Pflicht?“ habe ich sie gefragt. Und: „pass auf ihn auf, war alles was sie mir auftrugen.“ Er drückte verzweifelt seine Pranken gegen seinen wuchtigen Schädel, als wollte er ihn wie eine Pampelmuse zerdrücken. „Aber sie sagten nicht, pass auf, dass er sich nicht selber etwas antut.“ Den Blick auf seine braunen Ochsenlederstiefel gerichtet, sackte er noch etwas weiter in sich zusammen. „Aber ich hätte es wissen müssen.“ Er warf den Kopf in den Nacken und verlor sich im satten Blau des Himmels. „Verflucht!“ brüllte er donnernd in die Stille. „Auf was hätte ich auch sonst aufpassen sollen? Dass er flüchtet? Wie denn? Sie hatten einen ganzen Berg um ihn herum gebaut. Verflucht!“ Seine trockene Kehle brannte vom Schreien. „Es war meine Aufgabe ihn davon abzuhalten. Ihn umzustimmen. Ich hätte es ahnen müssen und ihm die ganze Sache ausreden müssen.“ Seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen, was ihn noch wütender machte. Er riss sein Schwert heraus und schleuderte es mit voller Wucht und einem schallenden Aufschrei der Verzweiflung um den erdrückenden Schmerz, der seine Seele fest umklammerte.

Die Klinge flog im hohen Bogen. Nichts bremste sie. Nichts hielt sie auf. Die karge Landschaft um ihn herum bot nicht mehr als grüne Hügel, die gesprenkelt vom weißen Kalkstein, unberührt von seinen Kummer, da lag. Kein Baum, keinerlei hohes Gewächs. Das einzig Aufragende war ein Wegekreuz, ein gutes Stück vor ihm. Keine zwei Schritt entfernt von diesem, ging sein Schwert zu Boden.

Der Schotterweg, dem er, mit der Senatsstadt Egoga im Rücken, folgte, gabelte sich an dieser Stelle. Auf dem stark verwitterten Pfeilen stand je nur ein Name. Der, dessen Richtung an einem Bergfuß vorbei führte, war mit Margowald beschrieben. Auf dem anderen, der dem Weg nach halb rechts folgte, stand in Großbuchstaben Nalclis.

Comal sah in beide Richtungen. Wohin sollte er nun gehen? Nach rechts, in seine Heimat? Zurück zu seiner Gemeinschaft, seinen Freunden, seiner Familie? Oder nach links. Dem Ungewissen entgegen. Dem riesigen Teil von Umbrarus, der den Menschen gehörte. Die, die den Nalcs nicht gut gesonnen waren.

Er hob sein Schwert auf, verstaute es wieder an seinem Hosenbund und ging nach rechts. Aber nur wenige Schritte und er blieb erneut stehen. „Gehe ich nach Hause, wird Vater mich umbringen, um wenigstens noch einen kleinen Funken Familienehre zu bewahren.“ Er würgte den Kloß in seinem Hals herunter „Er wird mich wieder in das Hundeloch stecken, wo ich einsam und alleine sterben werde.“ Er sah sich um. Sah in die Richtung, in der schon bald der Grenzfluss folgen würde. „Dort werde ich auch sterben“, gestand er sich ein. „Aber dort ist die Hoffnung größer, dass ich an diesem schicksalhaften Tag nicht alleine sein werde.“

Lesezeichen Nummer 7